Projekt „Glasaal“ – Forchtenberg (Landkreis Hohenlohe)
Forchtenberg ist eine kleine Stadt im Kochertal, rund 40 Kilometer ostnordöstlich von Neckarsulm. Zwischen 1919 und 1930 amtierte hier Robert Scholl als Bürgermeister der Vater der späteren Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl. Sophie Scholl wurde in Forchtenberg geboren. Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes datiert auf das Jahr 1298. Bis in die 1930er-Jahre blieb Forchtenberg eine Kleinstadt mit wenigen tausend Einwohnern. Mit der Inbetriebnahme der Kochertalbahn am 22. Juni 1924 setzte ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung ein.
Riedel-Anlasser für Strahltriebwerke
Etwa Mitte 1944 erhielt die NSU Motorenwerke AG einen Auftrag der Luftwaffe zur Fertigung sogenannter Riedel-Anlasser. Dabei handelte es sich um kleine, kompakte Zweizylinder-Zweitakt-Boxermotoren, die dafür ausgelegt waren, Strahltriebwerke wie das Jumo 004 oder das BMW 003 auf Anlassdrehzahl zu bringen. Der nach seinem Konstrukteur Norbert Riedel benannte Anlasser war in der Nabe des Verdichters der Turbine integriert. Das Jumo 004 kam im Standardantrieb der Messerschmitt Me 262 zum Einsatz, während das BMW 003 für die Heinkel He 162 gefertigt wurde. Die Arado Ar 234 nutzte beide Triebwerksvarianten. Riedel selbst arbeitete bei Victoria Werke AG in Nürnberg, wo der Anlasser ursprünglich entwickelt, und in Serie produziert wurde. Ob der Auftrag an NSU direkt im Zusammenhang mit der geplanten Me 262-Fertigung in Vaihingen / Enz bzw. später in Schwäbisch Hall stand, ist unklar. Mit der Einrichtung des KZ Kochendorf war jedoch erkennbar, dass in der Region ein Schwerpunkt für Luftwaffen-Rüstungsfertigungen aufgebaut werden sollte.
Untertageprojekt „Glasaal“
Im Sommer 1944 wurde für NSU das Gipswerk Forchtenberg am Kocher beschlagnahmt. Dort sollte unter dem Decknamen „Glasaal“ eine unterirdische Produktionsstätte entstehen. Geplant war eine Nutzfläche von rund 1 500 Quadratmetern in ausgebauten Stollen und Kavernen. Das Projekt erhielt die OT-Baunummer 114. Die Hohlräume wurden teilweise betoniert, mit Ziegelwänden unterteilt und mit technischen Installationen wie Strom- und Wasserleitungen ausgestattet. Auch sanitäre Einrichtungen wurden eingebaut. Ein kleines Ziegelgebäude diente offenbar der Fertigungsleitung als Büro oder Aufsichtsraum. Über die tatsächliche Nutzung liegen kaum Unterlagen vor. Der bauliche Zustand deutet darauf hin, dass sich die Anlage bei Kriegsende noch im Ausbau befand. Ob eine Produktion tatsächlich anlief, ist nicht belegt.
Fehlende Dokumentation und offene Fragen
Zu Forchtenberg existieren weder erhaltene NSU-Unterlagen noch Erwähnungen in der bekannten Literatur zu den Außenlagern des KZ Natzweiler-Struthof. Auch in den inzwischen gut erforschten sogenannten Neckarlagern und deren Außenkommandos findet sich keine eindeutige Zuordnung des Projekts „Glasaal“. Damit fehlen Angaben über den Zeitraum der Bauarbeiten und über die eingesetzten Arbeitskräfte. Angesichts des Umfangs der Bautätigkeiten im Jahr 1944 ist jedoch davon auszugehen, dass Zwangsarbeiter beteiligt waren.
Dass das Projekt in der KZ-Forschung bislang kaum Beachtung fand, ist kein Einzelfall. Eine ganze Reihe ähnlicher Untertage-Vorhaben, die ab Mitte 1944 für die Luftwaffe begonnen wurden, sind heute nur fragmentarisch dokumentiert. Oft wurden die eingesetzten Arbeitskräfte nicht über die KZ-Verwaltung verteilt, sodass sie in den Transport- und Lagerlisten nicht erscheinen. Viele dieser Orte waren formal keine Außenlager und tauchen daher in den bekannten Quellen nicht auf. Erschwerend kommt hinzu, dass zahlreiche beteiligte Firmen nach Kriegsende aufgelöst wurden oder ihre Unterlagen vernichteten. Da viele dieser Projekte vor Kriegsende nicht fertiggestellt und nie in Produktion gegangen sind, fehlt eine rückwärtige Spur über gefertigte Komponenten oder Materiallieferungen. Im Fall Forchtenberg ist heute nur bekannt, dass es eine Baustelle für eine unterirdische Produktionsanlage gab – und dass dort im Rahmen des Rüstungsprogramms der Luftwaffe der Deckname „Glasaal“ geführt wurde.


